Sprachgewitter: Die Welt dreht sich auch ohne dich, und das ist gut so

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Diesen Text schreibe ich, als ich am Rande eines 260 Seelendorfes in einem Haus ohne stabilem Mobilfunknetz sitze. Während mir hier bisher mehr Schafe als Menschen begegnet sind, konfrontiere ich mich immer wieder damit, was von mir übrig bleibt, wenn der Lärm der Stadt abklingt.

Denn jener Anteil, der gerne unter Leuten ist, nichts verpassen möchte und sich von Verbindungen und Begegnungen nährt, nimmt in meinem Alltag viel Platz ein. Ich bin in ständigem Austausch, treffe täglich Freund*innen und scrolle über den Bildschirm, wie durch kleine Fenster in die Leben von Menschen, die mich interessieren. Ich lebe gerne in der Stadt und habe manchmal das Gefühl, ich möchte mich in zwei teilen, um überall gleichzeitig sein zu können. 

Warum wir dabei sein wollen

Als Menschen sind wir ausgeprägte soziale Wesen. Dabei ist erst einmal keine Unterscheidung zwischen extrovertierten oder introvertierten Persönlichkeiten wichtig. Denn im Grunde genommen ist es ein Grundbedürfnis unserer Psyche, Teil einer sozialen Gruppe zu sein. Das ist mit ein Grund, warum Social Media Plattformen so große Erfolge feiern – sie ermöglichen Teilhabe und Zugang dazu, uns mit anderen Menschen zu verbinden. Und dies auf relativ unkomplizierte Art und Weise. Voraussetzung ist ein Smartphone und Zugang zum Internet. 

© BAM! | Marietta Dang

Einige Nachteile davon wurden erst nach der Entstehung spürbar und ganz besonders einer davon hat vor einigen Jahren sogar einen Namen bekommen: FOMO – The Fear Of Missing Out. FOMO beschreibt einen negativen, meist nervösen oder traurigen Zustand, in dem man sich ausgeschlossen fühlt und darunter leidet, ein Event oder eine Zusammenkunft zu verpassen. Ausgelöst und verstärkt wird FOMO dadurch, dass Einblicke eines Events oder einer anderen gesellschaftlichen Zusammenkunft über Soziale Medien geteilt werden und dadurch mitverfolgt werden können. Wortwörtlich durch eine Glasscheibe getrennt, sieht man anderen dabei zu, wie sie etwas erleben. 

Dabei blenden wir gerne aus, dass solche Abende auf Social Media, wie alles, meist gefiltert und ausgewählt kuratiert in der Darstellung sind. Insbesondere die Events, die von Freund*innen besonders hochtrabend in Szene gesetzt werden, sind oftmals wenig spektakulär. Worum es aber eigentlich geht, wenn ich hier fernab von allem darüber nachdenke, wieso es uns so schwer fällt, Dinge zu verpassen, ist eine Verschiebung der Perspektiven. Während man nämlich angeblich etwas versäumt, erlebt man ja selbst etwas ganz anderes, das deswegen nicht weniger wertvoll ist, weil es allein stattfindet.

Aus FOMO mach JOMO

Gegenbewegungen und Begrifflichkeiten dafür gibt es auch schon. JOMO (Joy Of Missing Out) ist der Gegenentwurf und drückt aus, dass man zufrieden mit sich und sogenannter “Me-Time” ist. JOMO wird verwendet, um Eigenermächtigung zu zeigen und wie schön und vor allem entspannend es sein kann, nicht überall dabei sein zu müssen.

Wenn ich zurückblicke auf die Abende, an denen ich Sorge und Frust verspürte, nicht teilhaben zu können, waren das oftmals die wichtigen Momente, um mich besser kennen zu lernen und mit meiner Gesellschaft zufriedener zu werden. Deswegen habe ich für mich ein paar Möglichkeiten gefunden, FOMO auszutricksen und in JOMO zu verwandeln. 

Ich nehme mich mit auf lange Spaziergänge, wähle ein Hörbuch oder eine Lieblingsplaylist aus, oder ich seh’ mir diesen Film, der mir immer ein gutes Gefühl gibt, zum fünften Mal an. Ich bestelle mir die Pizza aus der Lieblingspizzeria und trinke eine kühle Cola oder beginne endlich dieses Buch, das seit zwei Wochen auf dem Nachtkästchen liegt. Insgesamt versuche ich einfach unfassbar nett zu mir zu sein und mich zu Dingen zu motivieren, die im Alltag oftmals untergehen. Wenn es mir gelingt, die Rolle als “ausgeschlossene Zuschauerin” zu verlassen, ist es rückblickend immer ein schöner Abend gewesen.

© BAM! | Marietta Dang

Nicht alles glänzt

In einer Zeit, in der sich Lichter und Lärm abwechseln, ist es umso bereichernder, mit manchen Gedanken ein bisschen länger auszuharren. In diesen Augenblicken lerne ich mich besser kennen, verstehe, wer ich neben all den sozialen Rollen im Grunde bin und habe die Möglichkeit, nach Tagen, Wochen oder sogar Monaten der Reizüberflutung innezuhalten und zu sehen, wo ich stehe. Ich lasse mich davon überraschen, welche Bilder und Gedanken aufblitzen, wenn ich mich nicht laufend ablenken muss. Um dann zu der Erkenntnis zu kommen: Da passiert ganz schön viel, wenn man vermeintlich denkt, man hätte nichts unternommen.

Hier meine gefühlte Wahrheit: Am Schlimmsten fühlt sich alles nachts oder alleine an. Das kennen wir aus der Kindheit. Fantasien und Ängste werden überdimensional groß, wenn es Abend ist und wir uns niemandem mitteilen können. Doch wir sind keine Kinder mehr und haben deswegen die Möglichkeit den Anteil in uns, der sich einsam fühlt, an der Hand nehmen und ihm Gesellschaft leisten. Und selbst wenn wir einmal etwas Wichtiges verpassen – stabile Freundschaften und Beziehungen nähren sich nicht ausschließlich von einer Summe an verbrachten Stunden, sondern von Kontinuität und Stabilität.

© BAM! | Marietta Dang

Zu erkennen, dass die Welt sich ohne dich genauso weiter dreht, kann manchmal sogar ziemlich entlastend sein.

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.