Sprachgewitter: Warum Kreativität ein Grundbedürfnis ist

  • Lesedauer: 3 Minuten

Ich glaube, wir kommen mit dem Drang auf die Welt, unserem Erleben und unserem Innenleben Ausdruck zu verleihen. Schließlich ist es undenkbar, ein Kind aufwachsen zu sehen, ohne ihm überhaupt Buntstifte oder etwas zum Ausschneiden in die Hände zu geben. Basteln, Malen, Reimen – wir werden in eine Welt hineingeboren, die uns von Kreativität umgibt.

Obwohl nicht jede*r Zugang zu Kunst und Kultur hat, nicht jede Familie gleichermaßen die Möglichkeit hat, kreatives Schaffen zu fördern, ist der Drang an sich, kreativ zu sein, ein tiefes Bedürfnis der menschlichen Existenz.

Woher ich komme

Ich hatte immer große Schwierigkeiten mit sämtlichen Bastelarbeiten. Ich konnte nicht so richtig Zeichnen und das mit der Blockflöte habe ich nach wenigen Monaten aufgegeben. Es frustrierte mich ungemein, dass meine Hände nicht etwas Schönes, ja ästhetisch Ansprechendes schaffen konnten, was dem allgemeinen Verständnis von Kreativität entsprach. Doch immer schon schrieb ich gerne Geschichten. 

© Sophie Nawratil

Als ich zwölf Jahre alt war, verkroch ich mich stundenlang an meinen Schreibtisch im Kinderzimmer und stellte einen Gedichtband zusammen. Wir hatten einen alten Computer geschenkt bekommen und ich bastelte mit WordArt eine Rose auf das Titelblatt. Darauf stand: „Liebesgedichte von Jaqueline Scheiber“.

Auf sieben bis acht Seiten formulierte ich schwulstige Ideen und dramatische Abhandlungen vom Schmerz. Von der Liebe wusste ich damals eigentlich nichts, oder vielleicht wusste ich auch schon alles – doch nachdem ich einige große Liebesdramen im Hauptabendprogramm gesehen hatte, wuchs in mir der Drang, meine eigenen Worte dazu in die Welt zu legen. 

In der Bibliothek druckte ich die auf einer Diskette gespeicherten Dateien aus und heftete die Seiten ab. Ich hielt den Beginn meines kreativen Schaffens in den Händen. An diesem Tag hat sich etwas geöffnet, das sich nie wieder schließen sollte.

© Jaqueline Scheiber

In den darauffolgenden Jahren wuchs mein Schreibdrang. Ich schlug mich nach wie vor eher schlecht als recht durch den Werkunterricht. Doch ich wusste, dass mein Ausdruck nun einen Ort hatte: die Sprache. 

Kreativ-Sein hilft, Probleme zu lösen

Doch warum ist es uns so ein Anliegen, innere Vorgänge in einer Ausdrucksform sichtbar zu machen? Wieso braucht es Farben, Klänge oder Formen, um ein Leben zu bereichern?

Eine Antwort darauf ist, dass Kreativität uns dabei unterstützt, unser Denken zu erweitern. Wer sich kreativ betätigt, entwickelt die Fähigkeit, Neues zu entdecken, zu schaffen, was sich im Laufe des Lebens auch darauf auswirken kann, wie wir mit Problemen umgehen.

© Xenia Bluhm

Wer in der Kindheit seinen Fantasien und Basteleien nachgehen konnte, wird im Erwachsenenalter eher die Möglichkeit haben, über den Tellerrand zu blicken. Abgesehen davon stärkt es das Selbstwertgefühl und kann dabei helfen, die eigene Identität zu entwickeln und herauszuarbeiten.

Das Bild des leidenden Künstlers

Was im Kindesalter eine wichtige Brücke zur Welt und sich selbst ist, ist später auch eine Art dem Widerstand und der Welt zu begegnen. Joey Goebel schrieb den Roman „Vincent“ auf der Grundlage des leidenden Künstlers. 

 

Der Protagonist wird als Sprachwunderkind dargestellt und wird von einem Management, das im Hintergrund heimlich Fäden zieht und dafür sorgt, dass dem Protagonisten laufend schlimme Dinge widerfahren, um sein Schreiben am Laufen zu halten, kontrolliert. Joey Goebel skizziert damit die These, dass nur Menschen, die großen Schmerz empfinden, auch Großes schaffen können. 

© Jaqueline Scheiber

So sehr ich an diesem Buch anknüpfen konnte, würde ich diese These heute nicht mehr untermauern. Stattdessen denke ich: Der Schmerz wiegt manchmal so schwer, dass man ihn in irgendeiner Form kanalisieren und loswerden muss. Die Schönheit hingegen bringt oftmals eine Leichtigkeit mit sich, die man manchmal auch gerne in sich trägt und belässt.

Denken wir zurück an Momente, in denen wir das Bedürfnis haben, uns Ausdruck zu verleihen. Es sind bei Weitem nicht nur die hässlichen Seiten des Lebens.

Es sind Liebesbriefe, Fotografien von Orten oder Menschen, die uns überwältigen. Es sind Zeichnungen oder Malereien, in denen wir uns oder jemand anderem die Schönheit begreiflich machen wollen. Es sind Geschenke aus und in und an uns selbst. Und das ist das Eigentliche, das Wahre. Sei es die Sprache, ein Klang oder jegliche andere Form visueller Kreativität: Es ruht ein tiefes Bedürfnis in uns, verstanden und gesehen zu werden. Manchen reicht es, sich selbst zu begegnen. Andere suchen die Bühne und den Austausch. Das Gute ist: In der Kunst hat alles davon Platz.

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.