Wie Identitäten unseren Alltag bestimmen

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Die erste Welle des (westlichen) Feminismus setzte den Schwerpunkt auf gleichberechtigten Zugang zu politischer und wirtschaftlicher Macht. Recht auf Bildung, Wahlen oder die Gleichstellung in der Arbeitswelt waren unter anderem die Forderungen der damaligen Aktivist*innen. Es war eine Bewegung, die überwiegend von weißen Frauen aus der Mittelschicht organisiert und geführt wurde.

Der „gemeinsame Feind“ aller Frauen

Die Unterdrückung und Diskriminierung von BIPOC* (Black, Indigenous, People of Color) oder anderen marginalisierten Frauen, wie etwa aus der LGBTQIA+ Community, geriet dadurch immer mehr in den Hintergrund. So entstand die Annahme, dass der Unterdrücker und Feind aller Frauen einzig und allein der Sexismus ist – anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Klassismus (Diskriminierung und Vorurteile aufgrund der sozialen Schicht; richtet sich meistens gegenüber Personen aus der Unterschicht, wie arme Menschen oder Obdachlose) oder Homophobie wurden nicht beachtet. Wenn man das Patriarchat stürzen würde, dann wären alle Frauen befreit – so das Motto.

Intersektionalität

 

Eine Idee, die sich bis in die 1980er zog. Schwarze Frauen wie Angela Davis und Kimberlé Crenshaw beschäftigten sich damals in ihren Überlegungen mit der Überlappung von unterschiedlichen Diskriminierungskategorien. Crenshaw führte in der Wissenschaft später den Begriff „Intersektionalität“ ein. Intersektionalität beschreibt die Überschneidung von unterschiedlichen Unterdrückungsformen wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Transfeindlichkeit, Ableismus (Diskriminierung und Vorurteile aufgrund von Fähigkeiten; Behindertenfeindlichkeit) oder Klassismus. Diese können gleichzeitig existieren und sollten nicht isoliert voneinander betrachtet werden.

© BAM! | Marietta Dang

Deine Identitäten bestimmen deinen Wert als Menschen

Identitäten prägen unseren Alltag, weil wir innerhalb von Systemen und Gesellschaften leben, die auf Hierarchien und Macht aufbauen. Damit meine ich zum Beispiel Rassismus oder das Patriarchat. Eine weiße Frau wird in ihrem Leben mit Sexismus in Berührung kommen. Eine sichtbare Schwarze Frau wird mit Rassismus und Sexismus konfrontiert werden. Eine arme Frau wird basierend auf Klassismus benachteiligt werden, eine wohlhabende Frau wird diese Form von Ausgrenzung nicht kennen. 

 

Diese Identitäten und Kategorien, die an uns unfreiwillig zugetragen werden, bestimmen nicht nur unser alltägliches Leben, sondern auch unsere Position innerhalb einer Gesellschaft, unseren Wert als Menschen, unsere Erfahrungen in der Arbeitswelt, im Gesundheitswesen oder in der Bildung.

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Ungleiche Ressourcen und Zugänge

Um diese Identitäten erkennen zu können, muss man zu Beginn erkennen und einsehen, dass in der westlichen Gesellschaft bestimmte Menschen als „wertvoller“ betrachtet werden als andere. Es existieren Hierarchien basierend auf Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion oder Geschlecht. Weiße Menschen besitzen mehr Ressourcen und Macht als BIPOC*. Sie sind überwiegend in Institutionen vertreten, sitzen in den Regierungen und bestimmen unsere Gesetze. Wenn man dann nochmal genauer hinschaut, erkennt man, dass es mehrheitliche weiße reiche Männer sind.

Es gibt also „die da oben“, die mehr Entscheidungs- und Bestimmungsmacht haben als „die da unten“. Solche Verhältnisse führen zu sogenannten „Machtverhältnissen“: Unterschiedliche Gruppen oder Personen haben unterschiedliche Einflussmöglichkeiten und Macht.

Sexismus trifft auf Rassismus

Um Intersektionalität und die Überschneidung von mehreren Diskriminierungskategorien zu verdeutlichen, möchte ich ein persönliches Beispiel aufbringen: Vor etwa einem Jahr saß ich in der Straßenbahn auf dem Weg nach Hause. Ich bemerkte, dass mich seit 15 bis 20 Minuten ein Mann verfolgte, der sich dann später in dieselbe Straßenbahn zu mir setzte. Er kommentierte auf sexueller und herablassender Art und Weise mein Aussehen und wurde übergriffig.

Als meine Zurückweisung ihn wütend machte, schrie er: „Dann geh‘ doch zurück in dein Land! Scheiß Ausländer.“ Als sichtbare migrantische Frau wurde ich in diesem Zeitpunkt sexistisch und rassistisch angegriffen. Auf dem Nachhauseweg fragte ich mich die ganze Zeit: „Wie wäre das wohl ausgegangen, wenn ich weiß aussehen würde?“

Je sichtbarer unsere Identitäten, umso wahrscheinlicher die Konsequenzen

Schwarze Frauen sind von ganz spezifischen Stereotypen und Vorurteilen betroffen, die andere People of Color oder weiße Frauen nicht kennen. Sie werden als aggressive, laute und schmutzige Personen stereotypisiert. Transmenschen und Transfrauen werden jeden Tag ihre Identität abgesprochen. Sie seien keine „echten Frauen“ oder „echten Männer“. Behinderte Menschen, sowohl körperlich als auch mental, werden durch Ableismus unterdrückt – sie werden innerhalb unserer Leistungsgesellschaft als faul, dumm und „als Last“ betitelt. 

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Deine Identität bestimmt …

Wie ernst man mich auf der Arbeit oder während eines Meetings nimmt, wird auf der Sichtbarkeit meiner Identitäten basieren. Ob ich einen bestimmten Job bekomme, genauso. Wie ernst ein Arzt meine Schmerzen nimmt, bestimmen tatsächlich auch unsere Identitäten. Mittlerweile gibt es Studien, die beispielsweise aufzeigen, dass das US-amerikanische Gesundheitssystem von rassistischen Stereotypen geprägt ist. Es wurde bewiesen, dass die Schmerzen und Beschwerden von Schwarzen Frauen missverstanden, ignoriert oder kleingeredet werden. Fatale Folgen können die falsche Medikamentendosis, schwere gesundheitliche Probleme oder sogar der Tod sein.

Unfair, aber veränderbar

Chancengleichheit existiert in einem System mit Machtverhältnissen nicht. Jeder Mensch (und die dazugehörige Gruppe) hat unterschiedliche Ressourcen, Privilegien und Zugänge. Wir dürfen dabei aber nicht der Gefahr laufen, die Überlappung von verschiedenen Diskriminierungsformen zu vereinfachen. 

Oft erkennen wir nicht alles auf dem ersten Blick und müssen stets kritisch bleiben. Zusätzlich hierzu sollten wir unsere eigenen Positionen innerhalb einer Gesellschaft und die damit einhergehenden Privilegien immer hinterfragen und berücksichtigen, damit wir nicht mit einer ignoranten Einstellung durch die Welt gehen.

© BAM! | Marietta Dang

Denn so hart es auch klingt, ist unsere Welt unfair. Das Gute: Diese Ungerechtigkeiten sind nicht auf Ewigkeit in Stein gemeißelt und können bekämpft und eliminiert werden – gemeinsam können wir uns für eine bessere, freiere und solidarische Gesellschaft einsetzen. 

Über Berfin

Berfin Marx studiert Politikwissenschaften. Auf ihrem IG-Account @berfin.marx schafft sie einen Safe Space, bei dem sie über Rassismus, intersektionalen Feminismus und Klassenbewusstsein aufklärt und andere Menschen dazu inspiriert, sich zu engagieren oder einfach nur ihren Wissenshorizont zu erweitern.