Sprachgewitter: Ich war so Vieles nicht; immer irgendwie Dazwischen

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Meine erste Erfahrung war die, nicht dazuzugehören. Ich war die, deren Mutter nicht bei den Hausaufgaben helfen konnte, weil sie weder die Sprache gut genug beherrschte, noch die Zeit hatte, zwischen Schichten an meiner Seite zu sitzen und mich anzuleiten. Ich war die, die nicht in die Mannschaft im Sportunterricht gewählt wurde. Essen war meine erste Coping Strategie und ich wuchs früh aus allen Nähten. Ich war die, die nicht die neueste Kleidung trug oder nach den Sommerferien von Fernreisen erzählen konnte., Sommer für Sommer erforschte ich hauptsächlich den Garten meiner Uroma in einem kleinen ungarischen Dorf, wofür sich allerdings niemand aus meiner Klasse interessierte. Später war ich dann die, die nicht mit Freund*innen fortging und das Nachtleben erkundete. Ein ganzes Jahr verbrachte ich stattdessen auf Krücken gehend und war entweder im Krankenhaus oder in meinem Zimmer gefangen.  Und als ich schließlich das Schreiben für mich entdeckte, war ich wieder nicht die, die sich in Kunstkreisen etablierte, in einer Szene einen Namen machte, um ernst in meiner wichtigsten Ausdrucksform genommen zu werden.

© BAM! | Christopher Hanschitz

Ich war so Vieles nicht; immer irgendwie Dazwischen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich den Blick auf meine Defizite überwinden konnte. Bis mir bewusst wurde, dass neben all den Rastern und Kategorien, in denen ich keinen Platz fand noch etwas anderes existierte. Ich erkannte die Chance, eine ganz neue Kategorie zu erfinden: mich.

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Es ist ein Kraftakt, die eigenen Kränkungen und Einschnitte zu bewältigen, sich nicht länger als passiven Gegenstand in einer Gesellschaft wahrzunehmen, die keine Rolle für eine*n vorgesehen hatte. Die eigene Geschichte wird immer eine Rolle spielen. Es ist wichtig, sich mit der persönlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Nur so kann man feststellen: dieses Kostüm passt mir nicht mehr. Ich habe meine Maske abgelegt. Eine Maske, die verbirgt, dass man nicht dazugehört.

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Es gibt zwei wichtige Emotionen, die für diesen Prozess der Selbstfindung unverzichtbar sind. Die eine ist Selbstmitleid und die andere Mut. Selbstmitleid ist ein durchaus hilfreiches Werkzeug. Es bildet einen Zugang zu dem, was uns widerfahren ist und was wir oft nicht beeinflussen konnten. Es eint uns mir unserer Umgebung. Bemitleidet man sich selbst, schafft man Raum für Reflexion, man ist in der Lage die eigenen Gefühle anzuerkennenund sich selbst besser kennen zu lernen. Dabei spreche ich von Faktoren wie Herkunft, gesundheitliche Probleme oder Schicksalsschläge. Als 2016 mein Freund plötzlich verstarb, hatte ich neben allen anderen Gefühlen vor allem eines: ich tat mir selbst leid. Mir ist etwas widerfahren, was nicht fair ist, was man niemandem wünscht. Mir zu erlauben auch ein Stück weit um mein eigenes Leben zu trauern war ein Befreiungsschlag. Selbstmitleid ist der Beginn sich zu verorten. Heute würde ich es laut von den Dächern brüllen: „Bemitleide dich selbst!“ Denn wir brauchen mehr Mitgefühl, und das beginnt in erster Linie bei uns selbst.

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Doch wie jedes Gefühl geht auch Selbstmitleid vorüber. Hat man es ausgebadet, ist man bereit für den Mut.

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Als ich den Mut fand, erkannte ich, dass Mut keine stampfende und laute Emotion ist. Er schleicht sich leise ein und er bringt Gelassenheit und Geduld mit sich. Der Mut  rankt sich Zentimeter für Zentimeter die Venen hoch bis er in den letzten Kapillaren des Gehirns angekommen ist. Mutig sein, das bedeutete für mich zu verstehen, dass ich immer eine Entscheidung habe; dass ich entschieden handeln und sein kann. Mutig zu sein gibt Kraft aus den Dingen, die uns widerfahren sind, ein neues Kapitel zu schreiben. Letztlich zählt die Gegenwart.

© BAM! | Christopher Hanschitz
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Also nahm auch ich die Dinge in die Hand. Nach langen Perioden des Selbstmitleids und daraus Wachsen, nach dem Moment, als der Mut in mir aufflammte und mir die Möglichkeit gab, einen Schritt nach Vorne zu setzen. Nach allem, was mir widerfahren ist, konnte ich bei mir Ankommen. Wenn mich heute jemand fragt, wer ich bin, dann ist das immer noch nicht einfach zu beantworten. Ich mag den Gedanken, nicht klar eingeordnet zu sein. Je nach Situation kann ich Sozialarbeiterin, Autorin, Hundebesitzerin, Ungarin oder junge Witwe sein, oder eine wilde Mischung aus alldem. Ich vereine in mir unzählige Aspekte und Erfahrungen, die in ihrer Vielfalt nur eine Bezeichnung wissen: meinen Namen. Auf dieser Ebene ist es mir möglich anderen Menschen zu begegnen. Erkläre mir, wer du bist, wer du sein willst und wer du einmal warst. Was hat dich zu dem gemacht, der du heute bist? Ich plädiere für Neugierde, statt Kategorien, für Mut und Mitleid und die Chance, Empathie für sich und für andere zu empfinden. Um letztlich bei sich anzukommen.

© BAM! | Christopher Hanschitz

Über den Fotografen

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.