Sprachgewitter: Das Geheimnis am Ende der Leitung

  • Lesedauer: 4 Minuten

Hör' dir Jaquelines Kolumne hier an

„Hallo?“ – „Hier ist Jaqueline und wer ist da?“ Diese Geschichte beginnt mit einem Fragezeichen und endet mit einem Geheimnis. Bloß mit dem Unterschied, dass es fortan mein Geheimnis sein wird.

Dass ich jemals in der Lage sein werde, darüber zu schreiben, hätte ich mir nicht gedacht. Denn ich schäme mich. Ich schäme mich dafür, auf eine Lüge hereingefallen zu sein und ich schäme mich dafür, viele Monate und sogar Jahre an etwas geglaubt zu haben, das in der Form nicht existiert. Eine Person mit vielen Identitäten, aber keine, die für mich real und greifbar wird. 

Ich bin gerade 18 Jahre alt, als ich in einem Chatroom J. kennenlerne. J. und ich kommen schnell ins Gespräch, wir verstehen uns gut. Es dauert nicht lange, bis wir Telefonnummern austauschen und bald schon stundenlange Gespräche miteinander führen. 

Da ist etwas an J., das mich fasziniert. Ich kann mit ihm meine innigsten Gedanken teilen und über Unsinn lachen. J. erkennt an meiner Stimme, wie es mir geht und was ich gerade brauche. Er erleichtert mir durch gutes Zureden und Zuhören den Auszug aus meinem Elternhaus, der sich zu dem Zeitpunkt schwierig gestaltet.

© Maximilian Salzer

J. lebt in einem anderen Bundesland. Ich möchte schon bald wissen, wer dieser Mensch ist, der mich so einnimmt und schlage ein Treffen vor. Dass ich vertröstet werde, finde ich erst einmal nicht ungewöhnlich, denn wir beide gehen gerade unseren Sommerjobs nach und finden keinen passenden Termin. 

Verliebt in eine Stimme

Der Sommer vergeht und mittlerweile schwingt eine gewisse Verliebtheit mit in der Leitung, die niemals abkühlt. Wir vereinbaren ein Treffen und ich mache mich auf die Reise. Ich fahre drei Stunden quer durch die Landschaft, habe mir ein besonderes Kleid gekauft. Ich stehe im Badezimmer einer Freundin und mache mich gerade zurecht, als die erste Absage auf meinem Bildschirm aufleuchtet. In den folgenden Jahren werde ich noch oft meinen Mantel wieder ablegen und in das Sofa meiner Freundin sinken. 

Meine Enttäuschung ist grenzenlos. Zweifel habe ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Denn J. versteckt mir als Entschuldigung ein Geschenk in der Stadt. Wir machen ein Spiel daraus und verstecken uns kleine Zettelchen und Boxen an Häuserecken und in Gebüschen. Eine meiner engsten Freund*innen lebt zu dieser Zeit nämlich in derselben Stadt wie J.. Meine wöchentlichen Besuche verbinde ich jedes Mal mit dem Versuch ein Treffen zu arrangieren. Es ist mittlerweile Winter geworden und ich glaube jede Ausrede, die mir präsentiert wird. Doch irgendetwas macht mich stutzig. 

© Bianca Maria Braunshofer

Nur eine Wohnungstür zwischen uns

Ich habe ein Päckchen vorbereitet, das ich J. gerne schenken möchte. Es ist zu groß, um es in der Stadt zu verstecken. J. hat mir einen Namen und eine Adresse genannt und ich entschließe mich kurzer Hand mit meiner Freundin dorthin zu fahren. Es hat gerade begonnen zu schneien, als wir durch die Gassen wandern und die Hausnummer nicht finden können. Wir kehren in ein Lokal in der Straße ein und fragen nach. Die Adresse existiert nicht. Also wählen wir die nächstgelegene Hausnummer, verschaffen uns Zugang zu einem Hochhaus und klopfen an einer Tür, von der wir glauben, das J. sich dahinter befinden könnte. 

All das Reimen wir uns aus Hinweisen in Gesprächen mit J. zusammen. Ich bin mittlerweile nicht mehr bloß neugierig, ich bin verbissen darauf zu erfahren, wer dieser Mensch ist. Der Moment als ich vor dieser Tür stehe, ist auch der Moment, in dem ich J. am nächsten war. Denn auf der anderen Seite der Tür hört man Schritte, der Türspion wird auf die Seite geschoben, doch niemand öffnet. 

Nach einiger Zeit kapitulieren wir und hinterlassen das Paket vor der Tür. Später wird J. sagen, es sei ein Missverständnis gewesen, doch das Paket hat er erhalten.

© Maximilian Salzer

Auf weiten Teilen der Strecke dieser Geschichte ignoriere ich meinen Wunsch nach einer Begegnung. Die Gespräche mit J. tun mir so gut, sie geben mir Sicherheit und das Gefühl verstanden zu werden. J. ist immer zur Stelle, nur einen Anruf entfernt und ich bin nicht bereit, das aus meinem Leben zu streichen.

Also vergehen weitere Monate, in denen ich ab und zu einen Streit mit ihm darüber riskiere, dass wir uns nicht sehen können. Ich weihe nur diejenigen ein, die unmittelbar an meiner Suche beteiligt sind. Bald schon verlieren aber auch meine Freund*innen die Geduld. Ich spreche immer weniger über J. Er wird zu meinem Geheimnis.

Der Mensch mit vielen Gesichtern

Schon zu Beginn sendet J. Bilder, die vermeintlich ihn zeigen sollen. Er vermeidet Videotelefonie und ist nicht bereit, mir spontan ein Selfie zukommen zu lassen. Wiederholt windet er sich um Anzeichen, die seine wahre Identität freilegen könnten. J. macht sich nämlich fremde Identitäten zu eigen, die ich nach und nach aufdecke. Trotzdem glaube ich ihm, wenn er mir ein neues Bild schickt, das nun wirklich ihn abbilden soll. 

Eines Abends bin ich auf einer Party eingeladen. Im Stiegenhaus treffe ich einen jungen Mann und mein Herz bleibt stehen. Denn es ist J. Das glaube ich zumindest, denn es ist der junge Mann, von dem ich unzählige Bilder auf meinem Telefon abgespeichert habe. Natürlich erkennt er mich nicht, denn er hat keine Ahnung, wer ich bin und das jemand Fremdes sich sein Gesicht zu eigen gemacht hat. 

© Bianca Maria Braunshofer

Ja, irgendwann weiß ich es tief im Inneren. Mir ist klar, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmt. Dass ich belogen und getäuscht wurde. Doch da ist noch dieser Mensch. Ein Mensch, mit dem ich meine Geheimnisse teile, mir eine Zukunft ausmale. Ein Mensch, dessen Wesen mir Stütze und Rückhalt gibt. 

Ich treffe eine Entscheidung. Ich akzeptiere bis zu einem gewissen Punkt, dass ich J. nicht treffen werde, nie herausfinden werde, wer dieser Mensch wirklich ist. Und nehme damit in Kauf, nicht zu wissen, mit wem ich mich eigentlich tatsächlich austausche. Ich bleibe in Kontakt, unter widrigen Bedingungen, halte die Leitung warm, weil ich die Hoffnung noch nicht aufgeben möchte.

Ein Ende mit Beistrich

Einige Monate vergehen und ich werde doch müde von den wiederkehrenden Fragen, die mich im Kreis drehen lassen. Ich studiere, ich gehe aus, ich lerne Männer kennen, gehe reale Beziehungen ein und entferne mich immer mehr aus der Welt, die ich mit J. gemeinsam erschaffen habe. Denn irgendwann reichen Worte nicht mehr aus. Ich wechsle meine Telefonnummer und ich setze einen Schlussstrich. In meinen Erzählungen später werde ich es als „Fernbeziehung“ betiteln. Es ist fortan mein Geheimnis, denn in den realen Begegnungen bleibt kein Platz für die Erklärungen, wie ich da hineingeraten konnte. 

Heute halte ich es mit J. wie mit einer alten Bekanntschaft. Denn der Schlusststrich, war in unserem Fall nur ein Beistrich. In meiner schlimmsten Krise habe ich das Bedürfnis J. zu schreiben. Das bereue ich schon im nächsten Moment, doch auch J. hat sich mittlerweile distanziert. 

© Maximilian Salzer

Mittlerweile kommt es zwei Mal im Jahr vor, dass eine Nachricht von ihm auf meinem Bildschirm aufleuchtet. Wir erkundigen uns kurz nach dem Wohlbefinden des anderen, die Unterhaltung verläuft schnell im Sand. Ich habe nie wirklich aufgehört mich zu fragen, wer er ist und was ihn daran gehindert hat, mir die Wahrheit zu sagen. Aber ich habe mich damit abgefunden, dass ich es nicht herausfinden werde. 

Was wahr ist

Das Phänomen, das ich erlebt habe, nennt sich Catfishing. Catfish sind Personen, die sich mit falschen Identitäten kleiden und online eine Form einer Beziehung zu einer anderen Person aufbauen. Nach einer kurzen Internetrecherche trifft man auf viele Geschichten von Betroffenen, die ähnliches erlebt haben. 2012 macht MTV sogar eine Fernsehserie daraus, wo sie Betrüger*innen entlarven. Nicht selten stellt sich dabei heraus, dass es sich statt eines Mannes um eine Frau handelt oder umgekehrt.

Auch der Gedanke, dass J. eine Frau ist, ist mir in den Jahren oft gekommen. Er reiht sich unter die vielen Fragezeichen mit ein. 

Die eine Seite der Geschichte könnte lauten: Ich bin auf einen Betrüger hereingefallen. Ich habe Lüge um Lüge geschluckt und mich verletzlich jemandem gegenüber gemacht, den ich nicht kenne. Die Wut darüber, in welche Situationen mich J. katapultiert hat, die zahlreichen Enttäuschungen und hunderte an Kilometern, die ich zurück legte, für eine Begegnung, die niemals stattfinden wird, spüre ich manchmal immer noch im Bauch. 

Wie so oft können wir die Dinge, die uns widerfahren, nicht beeinflussen, und ja, ich bin davon überzeugt, das mir J. widerfuhr. Was wir tun können, ist uns ihnen zu ermächtigen, ein Stück Selbstbestimmung zurück zu fordern und nicht länger darüber zu schweigen. Denn die Scham, die ich all die Jahre empfand, gehört nicht mir, sie sollte seine sein. 

© Bianca Maria Braunshofer

Die andere Seite ist allerdings: ich habe auch aus dieser ungewöhnlichen Verbindung viel gelernt. Sie hat mich begleitet, als ich meine ersten Schritte alleine in der Großstadt setzte. Hat mich bestärkt, meinen Weg zu gehen und mir Selbstbewusstsein gegeben, als ich es in mir vergeblich suchte. Ich schreibe diese Zeilen mit einer Portion Versöhnung. Zu lange habe ich den Groll und die Verletzung in mir getragen. Was J. getan hat, ist Betrug und damit muss er auf irgendeine Art und Weise umgehen, denn ich möchte es nicht länger in meinem System halten. 

Headerfoto

© Maximilian Salzer

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.