Sprachgewitter: Mental Health eingebettet in Global Sickness

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Von jeher sehen wir uns mit Herausforderungen im Leben konfrontiert, die in manchen Momenten nicht bewältigbar erscheinen. Dann sprechen wir von einer psychischen Belastung. Eine dauerhafte Belastung kann zu einer Erkrankung führen, die einer Behandlung bedarf. Anders als früher haben wir nun ein Vokabular für die vermeintlich unsichtbaren Dinge entwickelt, die uns auf dem Herzen liegen, die Kehle zuschnüren oder den Atem nehmen. Es ist ein Raum und eine Sprache entstanden, die den Diskurs wie niemals zuvor öffnet. 

Mentale Gesundheit und Social Media

Denn mentale Gesundheit ist ein Thema, das in den vergangenen Jahren vor allem auf Social Media, aber auch in der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt. Hatten die Menschen früher keine psychischen Probleme? Ist die junge Generation verweichlicht und den Herausforderungen eines Lebens nicht mehr gewachsen? Sprechen wir zu viel über Depressionen, Angsterkrankungen oder Burnout, sodass sie als Ausrede verfremdet werden?

 

Die erste Antwort auf all diese Fragen ist: Nein.

Es ist eine Errungenschaft unserer heutigen Zeit, dass ein zäher, aber stetiger Prozess der Enttabuisierung und der Anerkennung der Bedeutung psychischer Erkrankungen losgetreten wurde. Betroffene haben durch Social Media Plattformen die Möglichkeit erhalten, ihre Erlebnisse und ihre Realität 1:1 wiederzugeben und zu verbreiten. Nie zuvor konnte man so unmittelbar in die Gedanken und die mit psychischer Belastung einhergehenden inneren Kämpfe hineinsehen und Verständnis entwickeln.

© Cansu Tandogan

Was sich ändern kann

Als Betroffene einer psychischen Erkrankung habe ich diesen Wandel in den vergangenen fünfzehn Jahren am eigenen Leib erfahren. Die ersten Versuche Hilfe zu suchen waren – vor allem in einer ländlichen Region – von Vorurteilen und Stigmatisierung geprägt. Ich bemerke mittlerweile in meinem Umfeld eine Art Wertschätzung, wenn man nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche adäquat versorgt und pflegt. 

 

Aus einer Arbeiter*innenfamilie stammend, bin ich mit der vorherrschenden Annahme aufgewachsen, dass Schwäche zu zeigen oder gar an ein Aufgeben zu denken, nicht im Vokabular vorhanden sind. Schließlich ist meine Mutter jung nach Österreich immigriert und ihre Lebensumstände waren stets herausfordernd und prekär. Erst viel später konnte ich begreifen, dass es eben dieser eiserne und gutgemeinte Wille war, der es mir nicht möglich machte, für mich selbst Empathie und Fürsorge zu empfinden.

 

© Cansu Tandogan

Eine Pandemie der psychischen Erkrankungen?

Auch ich habe subjektiv den Eindruck, dass psychische Erkrankungen oder Belastungen gerade vermehrt diskutiert werden und im Umfeld auftreten. Ich denke nicht, dass das darauf zurückzuführen ist, dass es diese Belastungen davor nicht gab. Sondern dass endlich ein Rahmen dafür geschaffen wurde und wir zunehmend in der Lage sind, unsere Emotionen zu artikulieren und uns als Mensch und nicht nur als Körper begreifen. 

 

© Cansu Tandogan

Die andere Seite der Medaille ist ein nicht unbeachtlicher Anstieg von Druck und Anforderungen in sämtlichen Lebenslagen durch den Turbokapitalismus der letzten 25 Jahre. Junge Menschen mögen viele Möglichkeiten haben, jedoch sind eben diese Möglichkeiten in vielen Bereichen mit Spitzenleistungen und Zutrittsbeschränkungen verbunden, während Mieten nicht mehr leistbar und Arbeit keine Garantie für ein materiell abgesichertes Leben sind. 

 

Das Business mit der mentalen Gesundheit 

Wenn ich heute über mentale Gesundheit spreche, dann spreche ich über die Chance, die Awareness Months und Aufklärungskampagnen mit sich bringen. Ich spreche aber auch über die Gefahr, die das Problem der vermehrten Belastung in unserem derzeitigen Wirtschaftssystem nicht behebt, sondern verstärkt. 

© Cansu Tandogan

Schon längst hat das Business mit mentaler Gesundheit Einzug auf dem Markt gehalten. Achtsamkeitsapps, Kissensprays oder Schlafmeditationen. All diese Dinge sind individuell nützlich (ich greife selbst auf das ein oder andere dieser Dinge zurück), doch sie belassen das Problem auf der individuellen Ebene des und der Betroffenen. 

© Cansu Tandogan

Im Streitgespräch

Was im Fokus all dieser Entwicklungen stehen sollte, ist der Ausbau unserer Empathiefähigkeit, die Erinnerung daran, dass Solidarität und Anteilnahme an jeder Quelle des Schmerzes zu einer Bewältigung geführt haben. Dass Menschen sich in ihren höchst individualisierten und gleichzeitig zum Teil vereinsamten Leben nicht mehr alleine fühlen, sondern eine Gemeinschaft erfahren, die trägt. 

Was im Fokus steht, ist die Kritik an ein System, das einerseits Podien für den Austausch über psychische Gesundheit veranstaltet und gleichzeitig Erkrankungen reproduziert – während die Versorgungslandschaft lückenhaft bleibt.

© Cansu Tandogan

Solange die Entwicklung an einer Stelle stockt, an der zwar eingeschränkt offen gesprochen, aber nicht adäquat gehandelt und behandelt werden kann, muss der Raum stetig und stur erweitert werden. Es muss Initiativen geben, die aufzeigen, in welcher Realität Menschen mit psychischen Belastungen leben. Es braucht starke Lobbys, die Interessen auf einer fachlichen Ebene einfordern und ohne individuelle Note unterfüttern – denn eines ist klar und unabdingbar: Das menschliche Erleben ist nicht ohne Herausforderungen, Belastungen und Schmerz zu sehen. 

Und das ist etwas, das uns eint und das Anliegen nach Entstigmatisierung und Enttabuisierung universell macht. Kommt der Moment, in der wir eine Krise am eigenen Leib erleben – und das ist statistisch absehbar – wünschen wir uns ebenso Empathie, Verständnis und Unterstützung. Von Freund*innen, am Arbeitsplatz, in der Familie – von der Welt. 

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.