Sprachgewitter: New Year, New Me?

  • Lesedauer: 2,5 Minuten

Das neue Jahr hat sich in einem Nieselregen über die Dächer gelegt, wir haben neue Kalender aufgeschlagen und zumindest ich für meinen Teil, trage den vom Vorjahr noch in meinem Rucksack, nur für den Fall, dass sich 2020 noch einmal bei mir meldet. Es sind schon einige Wochen vergangen, trotzdem schäle ich mich immer noch in langsamen Bewegungen aus der müden Verwirrung, die mir zwischen den Feiertagen um den Jahreswechsel verlässlich unterkommt. Und während wir gerade noch dabei sind, uns zu orientieren, mitten in einer Pandemie, läuft eine Maschinerie auf Hochtouren: die Neujahrsvorsätze.

Neujahrsvorsätze sind ein Kassenschlager. Ein altes Jahr schließt sich und ein neues wird – zumindest laut unserer Zeitrechnung – eröffnet. Die Slogans und Unternehmen wittern viele kaufkräftige Kund*innen, die ihre Vorhaben nun in die Tat umsetzen. Diäten, Sport, das Abtrainieren unliebsamer Gewohnheiten oder vielleicht doch eine zweiwöchige Saftkur zur Reinigung? 

© Canva

Ich halte von all diesen Kampagnen herzlich wenig, denn wenn ich eines weiß, dann dass „New Year, New Me“ erstens nicht funktioniert und zweitens gar nicht notwendig ist. Dein „old me“ ist genauso gut wie das aufpolierte. Und so sehr wir uns manchmal wünschen, am nächsten Morgen in einem vermeintlich erfolgreicheren Leben aufzuwachen, lassen sich unsere Geschichte, unsere Gewohnheiten und unsere Erfahrungen nicht in einer Nacht umkehren. Natürlich ist es legitim, sich Ziele zu setzen und Vorhaben in Angriff zu nehmen, aber nicht auf Grundlage der Selbstoptimierung, die sich darauf stützt, Menschen mit unrealistischen Idealen zu versorgen, die sie nicht erreichen können, um Dinge zu konsumieren, die sie nicht brauchen. 

© Jaqueline Scheiber

Keine Vorsätze, dafür ein bisschen Magie

Wieso ich trotzdem eine große Verfechterin von Silvester und den damit verbundenen Feierlichkeiten bin? Ich liebe den Gedanken, dass sich etwas schließt, um daraufhin etwas Neues zu öffnen. Im Kern all dieser Vorhaben und Wünsche steckt das Bedürfnis ein Ende unter etwas zu setzen, das wir alle gemeinsam als ein Kollektiv und jede*r individuell für sich erlebt hat. Nach einem Schwall an Jahresrückblicken kommt der Moment, an dem man nicht mehr zurückblicken möchte, sondern nach vorne.

Und dieses Vorne birgt eine Chance. Nicht unbedingt eine, sich selbst in ein utopisches Optimum zu verwandeln, das keine zwei Wochen standhält, sondern eine Chance auf einen neuen Zyklus an Geburtstagen, Festen, Erlebnissen, Kummer und auch Berührungen. Wir umrunden die Welt ein weiteres Mal. Und das ist für mich, ganz unironisch gemeint, immer mit einem Stück Magie verbunden. Traditionell läuft bei mir am Neujahresmorgen „First Day Of My Life“ von Bright Eyes; “Glad I didn’t die before I met you” schallt über den Holzboden, während ich noch Glitzerreste von meiner Wange wische. 

© Jaqueline Scheiber

Ein Moment des Träumens

Die Straßen sind leer, die Stimmung ist gemütlich, es entsteht ein kleines Vakuum, in dem sich die Neugierde und die Hoffnung auf ein unbeschriebenes Blatt projiziert. Für ein paar Stunden begegne ich dem Tag mit einer Art kindlichen Naivität. Fern liegt der Stress, der Druck und der straffe Zeitplan. Ich male mir Pläne aus, Reisen, denke an alles, was ich noch erleben möchte und wer dabei an meiner Seite sein wird. Und obwohl ich weiß – und spätestens seit dem vergangenen Jahr ist diese Erkenntnis einer breiten Bevölkerung zu teil geworden, dass Vorhaben jederzeit in Luft verpuffen können, schenke ich meiner Fantasie eine Portion Optimismus und Vorfreude.

Ich werde 2021 nicht besser werden, werde mich nicht gesünder ernähren, mich in keine Sportskanone verwandeln und rechtzeitig meine Wäsche waschen. Stattdessen werde ich Geschichten schreiben, Abenteuer erleben und in abgedunkelten Zimmern Herausforderungen begegnen, die ich meistern kann, weil es mir meine Erfahrung lehrte. 

© Jaqueline Scheiber

Ich werde altern und Überraschungen begegnen. Dinge, die ich vermutete, werden sich bewahrheiten und andere, die ich befürchtete, werden dann doch nicht eintreten. Ich werde meine Meinung bilden und sie auch wieder ändern. Ich werde die Wälder beobachten, wie sie sich ein weiteres Mal aus dem Winter in eine blühende Landschaft verwandeln und später wird mir die Hitze von der Stirn tropfen, bis ich mit meinen Stiefeln wieder durch Laub schlendere.

Und all das läuft unter der Überschrift 2021 – letztlich nur eine Markierung, eine Verortung, um unsere Erinnerungen zu katalogisieren. Um unser Leben gut verstaut zu wissen. 2021, eine leergefegte Bühne, die sich nach und nach mit Protagonist*innen füllt und zum Mittelpunkt eines Schauspiels entwickelt: ein weiteres Jahr Leben. 

© Jaqueline Scheiber

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.