Sprachgewitter: Nicht krank und nicht gesund

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In den vergangenen Wochen war ich in medizinischer Behandlung. Durch einen Zufall stellte sich heraus, dass der Hut an der ein oder anderen Stelle schon loderte. Und das obwohl man auf den ersten Blick nicht vermuten würde, das etwas mit meiner Gesundheit nicht stimmt – oder viel eher: nicht mehr gänzlich unversehrt ist. Auch ich musste das erst begreifen und hadere bis heute damit, wie es ist, wenn man sich eigentlich gesund fühlt, aber es eben doch nicht ist.

Ein blinder Fleck

Ich bin achtundzwanzig Jahre alt. Um genau zu sein, achtundzwanzig und ein viertel Jahr. Seit mehr als fünf Jahren lebe ich in einem Körper, der seine Funktion manchmal vergisst. Ich finde bis heute keinen angemessenen Begriff, um den Umstand zu beschreiben, der mich manchmal gesundheitlich an meine Grenzen bringt. Denn ich möchte das Geschehene und die Folgen davon nicht klar benennen, ich möchte mir Bereiche in meinem Leben behalten, die keinen öffentlich zugänglichen Titel tragen, davon gibt es ohnehin nur wenige.

Fakt ist, seit etwas mehr als fünf Jahren hadere ich damit, dass mein Körper nicht so läuft, wie es meinem Alter – auf den ersten Blick – entsprechend wäre. Ich leide an keiner Erkrankung und im Alltag würde es den meisten nicht auffallen, aber irgendetwas läuft eben anders in mir und meinem System und wenn ich mich dem über einen gewissen Zeitraum verschließe, kann es für meine Gesundheit gefährlich werden. 

© Kevin Brandtner

Eine Sammlung an Befunden

Dafür muss ich etwas früher ansetzen: In meiner Psyche wird gegraben, solange ich denken kann. Ursache und Wirkung, Diagnosen und Behandlung. Das ist ein Wechselspiel, in dem ich mich die meiste Zeit meines Lebens bewege und auch da waren Grenzerfahrungen und unfassbare Gewichte dabei, aber im Grunde fürchtete ich nicht um das Überleben.

Die Auseinandersetzung mit dem seelischen oder psychischen Schmerz hat eine völlig andere Konsistenz, als die Auseinandersetzung mit physischem Schmerz. Das weiß ich heute, das weiß ich, nach fünf-ein-viertel Jahren in diesem Körper. 

Ein Leben hat viele Facetten, es kann zu jedem Zeitpunkt in die unterschiedlichsten Richtungen verlaufen, zu jedem Zeitpunkt können uns Dinge oder Ereignisse begegnen, die das Gewohnte plötzlich ändern und einen Bruch darstellen.

© Kevin Brandtner

Ich wollte und konnte nie unauffällig sein

Die andere Seite der Geschichte ist, ich hatte in vielerlei Hinsicht Schwierigkeiten dabei, mich einzuordnen, eine Bezeichnung für das gesamte zu finden, lange lag die Wahrheit – wie so oft – irgendwo Dazwischen. Wandelndes Aussehen, ein Körper, der in seiner Form und Größe wuchs und schrumpfte, der gesät mit Narben und Tattoos, verziert mit buntem Haar und lauten Kleidern immer schon sagte: ich bin nicht, wie die meisten und ich möchte es gar nicht versuchen.

Aus mangelnden Alternativen schuf ich nach und nach Identitäten, Rollen und Räume, die ich in dieser Gesellschaft nicht für mich vorfand. Ich ging Umwege, machte beinahe nichts in einer geradlinigen Abhandlung, ich passte die Umgebung an meine Bedürfnisse an, anstatt mich Gegebenheiten zu fügen.

© Kevin Brandtner

Und obwohl ich sowohl oberflächlich als auch vom Wesen eher flexibel bin, fällt es mir bis heute schwer mich damit abzufinden per Definition nicht vollkommen gesund zu sein. Denn was bedeutet das in weiterer Folge? Ein Leben lang medizinische Behandlungen zu erhalten, um nicht an den Folgen unzureichender Versorgung zu leiden. 

Über weite Strecken nahm ich Symptome und Anzeichen in Kauf, ignorierte Warnsignale, bis mein Zustand akut wurde, um mir bloß nicht eingestehen zu müssen, dass ich auf Kontrollen, Wartezimmer-Ausblicke und Sprechstunden angewiesen bin.

Was bleibt?

Leben mit einer chronischen Erkrankung egal welcher Natur nimmt Freiheit und Spontanität, sie nimmt die Unbekümmertheit und Naivität, mit der wir auf diese Welt kommen und die es uns erlaubt Wundern zu begegnen. Sie nimmt die Illusion der Unversehrtheit und hinterlässt das Gewicht einer schwer verdaulichen Wahrheit: es gibt eine Grenze, an die diese Hülle, mit Hilfe dessen wir atmen und lieben und genießen stößt und manchmal ist sie nur so dünn wie Seidenpapier. 

© Kevin Brandtner

Ich musste auf die schmerzhafte Art und Weise lernen, dass auch ich es Wert bin, meine Gesundheit zu schützen. Dass ich Pausen einfordern und Hilfe annehmen darf. Aus vielerlei Gründen haben wir es verlernt rechtzeitig Halt zu machen – stattdessen gibt es Kollateralschäden und Schadensminimierung. Die Sorge und die Liebe meines Umfelds hat mich angetrieben eine Lehre aus den letzten Malen zu ziehen und mein Schicksal zumindest auf der physischen gesundheitlichen Ebene so anzunehmen, wie es unwiederbringlich ist: ein belastendes Kostüm, doch unter Umständen womöglich auch eine Chance wach zu sein und trotzdem hier und da noch der Magie zu begegnen.

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.