Sprachgewitter: Ode an den Moment oder wohin mir die Zukunft verloren ging

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Es ist Anfang November und ich sitze mit zwei Freundinnen in einem Raum. Sie unterhalten sich darüber, ob wir Mitte Dezember Lea besuchen, die aus der Stadt weg aufs Land gezogen ist.

Die beiden unterhalten sich am Tisch, ich sitze einige Meter weiter und hänge in meinen Gedanken versunken, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Die Pläne werden immer konkreter, doch ich bleibe dabei stumm. 

 

Irgendwann sagt Marie zu Gerda: „Meinst du, geht das für Jaqueline in Ordnung?“ Und Marie antwortet: „Ich glaube, Jaqueline plant gerade nicht so weit voraus. Die Zukunft ist ihr abhandengekommen.“ Marie, die für mich spricht, ist auch jene, die in den Wochen zuvor viele Gespräche, Telefonate und Auffangversuche geleistet hat, um mich durch eine Krise zu begleiten, die ich nicht kommen sah.

Und es ist wahr, ich habe mein System heruntergefahren. An Planung kaum zu denken, höchstens die nächsten zwei Tage grob umreißen – und: Wann ich wieder aus der Stadt fliehen kann.

Von einem Moment auf den nächsten: Zukunftslos

 

Es gibt Ereignisse oder Perioden im Leben, in denen uns völlig brutal und unerwartet der Zeitbegriff abhandenkommt. Zuvor abgesteckte Zeiträume, die gut einschätzbar waren, fühlen sich nun wie Ewigkeiten an. Oder als würde alles um einen herum zu rasen beginnen. Jede*r von uns wird an irgendeinem Punkt etwas erleben, das die Zukunft infrage stellt – womöglich sogar völlig verpuffen lässt.

 

© Cansu Tandogan

Was ist eine Zukunft? Zukunft ist ein Plan, ein menschliches Bedürfnis auch in einer Dimension zu existieren, die unabhängig von dem aktuellen Geschehen ist. Häufig dient Zukunft als Sehnsuchtsort, an dem Dinge vollkommener, erreicht oder einfacher sind. Man projiziert den Mangel der Gegenwart an einen Ausblick, der auch eine Funktion hat. Zukunftsideen oder -pläne zu haben motivieren uns, sie treiben uns voran und geben uns die Möglichkeit, Aufgaben zu bewältigen, die einen längeren Zeitraum erfordern. 

Sehnsuchtsorte bauen

 

Auch ich habe über weite Strecken meines Lebens in der Sehnsucht nach Zukunft gelebt. Während meines Studiums beispielsweise konnte ich die Freiheit – oder die Neugier – kaum genießen. Alles, woran ich denken konnte, war ein Abschluss, um endlich ein langersehntes, finanziell abgesichertes „Erwachsenenleben“ zu führen. 

 

© Cansu Tandogan

Mittlerweile habe ich nicht nur eine, sondern mehrere Situationen erlebt, in denen mir die Zukunft mit einem Schlag vom Horizont gerissen wurde. Deswegen weiß ich, dass es nicht reicht, den gesamten Fokus auf einen Punkt zu richten, der noch nicht greifbar ist – denn, wenn dieser wegfällt, folgt der freie Fall.

Die Zeit heilt keine Wunden, die zurückgelegten Wege tun es

 

Deswegen beschreite ich diesen Herbst in Abwesenheit eines vorausschauenden Blickes. Ich befinde mich in einer Ausnahmesituation, die jedoch im Grunde ebenso trivial wie alltäglich ist. Eine romantische Beziehung endete, ein gemeinsamer Haushalt wird auseinanderdividiert, eine Liebe muss sich abstrahieren und einen Ablageort in meinem Archiv der Erinnerung finden. Das ist eine brutale Form, sich der Gegenwart bewusst zu werden.

Immer nur den nächsten Schritt im Blick zu behalten, nicht überbordend mit Plänen und Sehnsüchten hauszuhalten. Doch diese Form lehrt einem auch, dass es grundsätzlich möglich ist – und, dass es befreiend sein kann – nur den Raum zu nutzen, der einem gegenwärtig zur Verfügung steht.

Was von der Zeitreise übrig bleibt 

 

Was ich mir aus diesem Herbst mitnehme, ist ein Appell an das Hier und Jetzt, die Bedeutung des Moments, denn er bietet auch die Möglichkeit, den guten Dingen mit voller Aufmerksamkeit zu begegnen. Im Augenblick zu leben, ohne zu sehr an den Strängen des Übermorgens zu hängen, kann eine Chance dafür sein, Gelegenheiten zu ergreifen und zu einer bestimmten Magie „Ja!“ zu sagen. 

 

© Cansu Tandogan

Denn viele der besten Geschichten sind aus der Spontanität und nicht aus der Planung entstanden. Und, wie alles im Leben, ist der Kern der Geschichte ein sanftes Gleichgewicht aus: Hier sein, nach vorne blicken und sich hier und da an Vergangenes erinnern.

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.