Sprachgewitter: Wie ich meinem Vater vergeben habe

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Mein Vater und ich verstehen uns gut. Wir leben mittlerweile in derselben Stadt, machen gerne Wanderungen am Wochenende oder treffen uns zu einem Abendessen in einem Wiener Gastgarten. Mein Vater macht viel Sport, ist belesen und hat die ein oder andere wilde Geschichte aus seiner Jugend parat. Er hat lange im Wiener Gastgewerbe gearbeitet und ist mittlerweile seit 30 Jahren als Taxifahrer unterwegs.

Wenn er spricht, lacht aus seinem Mundwinkel immer noch ein jugendlicher Leichtsinn entgegen. Manchmal packt ihn die Abenteuerlust und er wird zu einem verspielten Jungen. Oft verschwimmen die Grenzen, zwischen Elternteil und Kind innerhalb unserer Beziehung, doch damit habe ich gelernt umzugehen. 

Dass wir uns heute so gut verstehen, ist nicht selbstverständlich, denn wir haben einen langen Weg hinter uns gebracht. Dazu muss ich etwas tiefer in meine Familiengeschichte eintauchen. 

© Jaqueline Scheiber

Meine Eltern lernten sich auf Saisonarbeit in Tirol kennen. Es war eine kurze, aber intensive Liebesgeschichte mit unerwartetem Ausgang. Erst nachdem sie sich bereits getrennt hatten und mein Vater zurück nach Wien reiste, bemerkte meine Mutter, dass sie schwanger war. 

Die beiden hatten nicht unbedingt vor, die nächsten Jahrzehnte in Kontakt zu bleiben. Zu der Zeit war mein Vater jemand, den man als Lausbub oder Strizi bezeichnen könnte. Er war gern unterwegs, ist aus Nachtschichten weiter um die Häuser gezogen und hat sich mit so wenig Verantwortung wie möglich durch sein Leben bewegt. 

Meine Geburt änderte diesen Umstand nur oberflächlich. Heute weiß ich, dass er oft unzuverlässig war, verkatert an seinem Besuchswochenende ankam oder gar nicht auftauchte. Er war jung und ein Kind stand nicht auf seiner Prioritätenliste. 

Neben seiner Nachtarbeit versuchte mein Vater Besuchswochenenden zu jonglieren und im 14-tägigen Rhythmus Erziehung anzubieten, die im Gegensatz zu meiner Mutter stand. Das hatte schon bald zur Folge, dass ich in einen Konflikt geriet. Mit mir und mit meinem Vater.

© Jaqueline Scheiber

Ich erinnere mich noch gut an die langen Autofahrten von Wien zurück ins Burgenland, in denen mein Vater lange Reden schwang, mir versuchte seine Weltanschauung zu vermitteln und dabei oft unrealistische Ansprüche an mich stellte. Ich führte ein Doppelleben, um in zwei Haushalten zurecht zu kommen, zwei verschiedene Vorstellungen von mir zu bewältigen und zwei verschiedene Bilder einer Tochter zu zeigen. 

Heute weiß ich, es war nicht nur für mich schwer, keine Vaterfigur im eigenen Haushalt zu haben, sondern auch für ihn. Denn er hat nie gelernt mit einem Kind umzugehen. Konnte nie die passende Sprache entwickeln oder eben auch einmal Emotionen zeigen. Für ihn war es wichtig, in 48 Stunden zu kompensieren, was er zwei Wochen lang verpasst hatte. Und das war nicht selten schmerzhaft. 

© Jaqueline Scheiber

In meiner Pubertät spitzte sich unser Konflikt zu und ich brach den Kontakt ab. Denn seine Vorstellungen einer Tochter deckten sich nicht mit meiner Realität und meinen Vorstellungen eines Vaters konnte er nicht gerecht werden.

Ich habe mich dann aus einer Abwesenheit heraus zu einer Frau entwickelt, die lange Probleme im Kontakt mit Männern hatte. Das äußerte sich vor allem in meiner Jugend und dem frühen Erwachsenenalter. Mein Vater saß nicht an meinem Bett, wenn ich krank war, er besuchte keine Theatervorstellungen oder tröstete mich, als ich Liebeskummer hatte.

© Jaqueline Scheiber

Erst seit einigen Jahren verstehe ich, was es bedeutet, Fürsorge von einer männlichen Bezugsperson zu erfahren und welche Auswirkungen das Fehlen genau dieser auf mein heutiges Rollenbild hat. Ich kann mich immer noch schwer überwinden, Schwäche vor Männern einzugestehen, meinen Partner um etwas zu bitten oder zuzugeben, dass es mir nicht gut geht. Was ich aber gelernt habe, ist (Selbst-) Sicherheit und Anerkennung nicht länger in anderen zu suchen, sondern sie in mir zu verorten und zu finden. 

Obwohl, oder gerade, weil ein Elternteil ein wichtiger Bestandteil der eigenen Identität ist, suchte ich nach meiner Pubertät wieder den Kontakt. Ich war gestärkter, war sicherer in mir selbst und konnte meinem Vater auf Augenhöhe begegnen. Diese Augenhöhe war es letztlich auch, die uns unsere heutige Beziehung ermöglicht. Wir sprechen nicht gerne über die Jahre, die wir im Wechselbad von An- und Abwesenheit gemeistert haben. Denn sie sind mit Wunden verbunden, die auf beiden Seiten an der ein oder anderen Stelle noch weh tun. 

© Jaqueline Scheiber

Heute ist mein Vater ein wichtiger Teil meines Lebens. Wir haben gelernt unsere Türen zu öffnen, die Schauplätze zu wechseln und ein bisschen Leben des anderen hinein zu lassen. Das verläuft nicht immer glatt, aber immer öfter mit geringerem Widerstand. 

Ich habe meinem Vater seine emotionale Abwesenheit vergeben. Ich habe akzeptiert, dass es Dinge gibt, die in der Vergangenheit liegen, die man nicht mehr ändern kann. Das kam nicht von alleine und haben Therapien und Reifungsprozesse mit sich gebracht. Ich habe verstanden, dass die Antworten auf meine Fragen nicht unbedingt etwas an dem Umstand ändern, wie ich mich heute in der Welt bewege. Ich habe begriffen, dass nicht nur ich eine Entwicklung durchlaufen bin, sondern auch mein Vater nicht mehr derselbe ist, der er vor  20 Jahren noch war. 

© Jaqueline Scheiber

Und deswegen hab ich mich dazu entschieden, uns einen Neuanfang zu erlauben, eine Tabula Rasa einer Vater-Tochter Beziehung, die mit einiger Vorlaufzeit zu dem werden konnte, was sie heute ist: Ein liebevolles Interesse am Leben des jeweils anderen. 

Jemandem zu vergeben, bedeutet nicht, all die Verletzungen oder Enttäuschungen zu vergessen. Es bedeutet, sich ein Stück Frieden und Ruhe zuzugestehen und das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten. Das gehört zu einer der größten Errungenschaften meines Erwachsenenlebens.  

 

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.