Transgenerationales Trauma: Wenn Leid über Generationen getragen wird

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Es gibt viele Gründe, warum Menschen in Therapie gehen. Manche wollen ihre immer wiederkehrenden Panik- oder Angststörungen loswerden, andere wollen traumatische Erlebnisse verarbeiten, um ein glücklicheres und erfüllteres Leben führen zu können. Doch was kannst du tun, wenn dir ein Trauma durch Leid deiner Vorfahren vererbt wurde?

TGT – Was ist das?

Transgenerationales Trauma (TGT) bedeutet die Weitergabe von Traumata einer Generation auf die nachfolgende Generation. Diese Übertragung findet jedoch oft unbeabsichtigt, unbewusst und ungewollt statt. Forscher*innen sind sich heute einig, dass traumatische Erlebnisse genetisch weitergegeben werden können. Wie diese Weitergabe genau stattfindet, ist bisher unklar – es ist schwer, die Mechanismen dahinter zu verstehen, weil so viele Faktoren einen Einfluss auf unsere Psyche und die Gesundheit haben.

 

Die Nachkommen der Holocaust-Überlebenden

Dass Traumata womöglich vererbt werden können, wurde 1966 das aller erste Mal im Zusammenhang mit Kindern von Holocaust-Überlebenden bedacht – in Kanada suchten die Kinder und Nachfolger*innen der Überlebenden des Holocausts in den 60er-Jahren damals vermehrt nach psychischer Hilfe in Kliniken. 

 

© Cansu Tandogan

Das brachte Wissenschaftler*innen auf die Idee, mal einen genaueren Blick auf andere marginalisierte Überlebende zu werfen: Dasselbe Muster an kollektivem transgenerationalem Trauma wurde dann schließlich auch bei Nachkommen der Afro-Amerikanischen Community gefunden, deren Vorfahren durch Kolonialismus und Sklaverei unterdrückt wurden.

Politische Systeme und ihr Einfluss auf unsere Psyche

Kriegsüberlebende, Geflüchtete, Überlebende von häuslicher oder sexueller Gewalt und andere Gruppen von Menschen, die ein schweres Trauma mit sich tragen, können es ihren Kindern also mitgeben – ob sie wollen oder nicht. Transgenerationales Trauma ist hochpolitisch, weil es direkt mit vergangenen und nach wie vor existierenden Systemen zusammenhängt.

 

Es sind nämlich menschenverachtende Ideologien und Systeme, die den Holocaust oder die Sklaverei von Schwarzen Menschen möglich gemacht haben. Kriege, Ausbeutung und Verfolgung sind politische Zustände, die sich psychisch auf Betroffene, Zeug*innen und Überlebende auswirken.

© Cansu Tandogan

Mentale Gesundheit – ein Privileg?

Psychische Gesundheit bleibt hochpolitisch, weil deine Position innerhalb der Gesellschaft in direktem Zusammenhang mit deiner mentalen Gesundheit steht. Mittlerweile wurde mehrfach bewiesen, dass marginalisierte Gruppen (wie Schwarze Menschen oder People of Color) viel häufiger an Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Stress erkranken. BIPoC sind systematischer Gewalt wie weißer Vorherrschaft, rassistischer Diskriminierung und imperialer Ausbeutung, wie etwa im globalen Süden ausgesetzt.

 

Das sind erschreckende Fakten, wobei wir kaum Untersuchungen und Informationen zu den mentalen Zuständen von Menschen aus dem Globalen Süden haben, die für den Wohlstand im Westen tagtäglich ausgebeutet werden – darunter auch Kinder.

BIPoC viel häufiger betroffen

Der Teufelskreis von Trauma und Leid hält umso länger und schlimmer an, weil BIPoC kaum beziehungsweise weniger Ressourcen und Zugänge zu Therapien oder anderen Formen von Unterstützungen haben. Hinzu kommt, dass Themen wie Depressionen oder Suizidgedanken nach wie vor in vielen Kulturen tabu sind und mit Scham gleichgesetzt werden. Viele Therapien nehmen oft keinen Bezug auf die Lebensrealität von marginalisierten Menschen auf, die durch Kapitalismus oder Rassismus eine ganz spezifische Art von Trauma und Leid erfahren.

 

“Was haben deine Großeltern eigentlich erlebt?”

Als ich vor etwa vier Jahren beschloss, in Therapie zu gehen, hätte ich mir selbst nicht vorstellen können, dass die Verfolgung meiner kurdisch-alevitischen Vorfahren eine Rolle spielen würde. Meine Therapeutin fragte mich genauer über die politische Unterdrückung meiner Großeltern und meiner weiblichen Vorfahren. Auch in meiner Generationenlinie ist ein immer wieder auftauchendes Muster an Depressionen, Angststörungen und Panikattacken zu beobachten.

 

© Cansu Tandogan

Eurozentrische Psychologie

Ich hatte mit meiner Therapeutin Glück, weil ich weiß, wie wenig Raum transgenerationales Trauma in Therapiestunden oft einnimmt. Politische Systeme, Diskriminierungen und Unterdrückungsmechanismen werden kaum beachtet oder in die Analyse miteinbezogen. Das liegt daran, dass unser Wissen rund um Psychologie und psychische Gesundheit “weiß gewaschen” und eurozentrisch ist. Weil es mehrheitlich weiße Wissenschaftler*innen sind, die eine einen “weißen” Blick auf die Welt und die Realität haben.

 

Mentale Gesundheit ist politisch!

Psychische Gesundheit wird politisch, weil es ein Privileg ist, sich professionelle Hilfe und Unterstützung zu holen. Es sollte aber ein Recht für alle sein. Der Zugang zu Kassenplätzen für Psychotherapie ist eingeschränkt und die Anzahl der freien Plätze viel zu wenig – vor allem wenn man sich die psychischen Folgen der Corona-Pandemie anschaut. 

 

© Cansu Tandogan

Wenn dich das System krank macht

Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Queerphobie oder Ableismus können große Einflussfaktoren auf die Psyche eines Menschen sein, doch bleiben unbeachtet, weil es entweder außerhalb der Lebensrealität des*der Therapeut*in liegt oder gar nicht als “wahres Problem” wahrgenommen wird. Oft werden diese Diskriminierungsmechanismen als unveränderbare Realität wahrgenommen: Man solle sich einfach damit abfinden oder lernen, damit besser umzugehen.

© Cansu Tandogan

Beende den Generationenfluch!

Der Kampf um soziale Gerechtigkeit bedeutet auch der Kampf um mentale Gesundheit von all jenen, die systematisches Leid erfahren oder erfahren haben. Wir müssen Tabus brechen, Zugänge für Therapieplätze für BIPoC und andere Gruppen schaffen und schlussendlich als Kollektiv aufeinander schauen und uns gegenseitig unterstützen.

Ein Trauma mit sich zu tragen bedeutet nicht das Ende, sondern kann auch der Anfang eines erfüllteren und glücklicheren Lebens bedeuten, wenn man beschließt, dem Generationenfluch ein Ende zu setzen.

 

Über Berfin

Berfin Marx studiert Politikwissenschaften. Auf ihrem IG-Account @berfin.marx schafft sie einen Safe Space, bei dem sie über Rassismus, intersektionalen Feminismus und Klassenbewusstsein aufklärt und andere Menschen dazu inspiriert, sich zu engagieren oder einfach nur ihren Wissenshorizont zu erweitern.