Die Spiegel unseres Lebens: Wie Memekultur Individualität neu definiert

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Zeig mir deine ForYouPage und ich sag dir, wer du bist. Ja, echt jetzt. Unsere Smartphones bieten nicht nur durch die spiegelnde Oberfläche eine Möglichkeit zur Selbstreflexion. Wie der Algorithmus uns das Gefühl gibt, auf einzigartige Art berechenbar zu sein, und was an dem ganzen System so menschlich ist.

Eine*r von allen, aber keine*r wie jede*r.

Menschen mögen es, dazuzugehören. Aber auch anders zu sein. Das klingt paradox. Genauso wie die Tatsache, dass wir ständig neuen Trends verfallen, bei denen alle dasselbe machen. Warum? Weil wir es auf unsere Art anders machen wollen. Also gleich, aber eben nicht ganz. Soziale Medien füttern genau diesen Teil unserer Egos. Sie bieten sowohl Zugehörigkeit als auch eine Möglichkeit, seine Besonderheiten hervorzuheben.

@notnoelmiller

#greenscreen

♬ The Time is Coming – Aery Yormany

Schlummern bei uns allen ähnliche Ideen?

Gerade fangen zum Beispiel tausende User*innen ihre düsteren Wintermomente ein und machen aus dem Winterblues eine neue dark aesthetic. Viele werden sich in der U-Bahn schon mal vage darüber bewusst gewesen sein, dass es irgendwie gerade eine besondere Stimmung hat. Dann hat plötzlich jemand geschafft, diese finstere Melancholie abzubilden und der Trend startete wie von selbst. Ganz als ob diese Idee bei unzähligen Menschen direkt unter der Oberfläche gewartet hätte, um dann zum Ausdruck zu kommen.

@asyavlade

foggy #darkaesthetic #aesthetic #naturelover #fypシ

♬ original sound – Ian Asher

 

Wir lieben es einfach, zu sehen, wie Gedanken, Gefühle oder Stimmungen, die uns schon länger unbewusst bewegt haben, plötzlich klar dargestellt werden. Viele Trends leben davon, dass sie uns aus der Seele sprechen.

Und das bringt uns dazu, mitmachen zu wollen. Wie bei einem guten Gespräch, welches plötzlich ein flammendes Interesse entfacht. Nach dem Motto “JETZT WO DU’S SAGST”, gefolgt von einem starken Mitteilungsbedürfnis. Durch soziale Medien verbreiten sich Ideen und Denkweisen heutzutage so schnell, dass man kaum daran vorbeikommt.

Von A wie Awakening bis Z wie Gen Z

Dauerte es vor einigen Jahrzehnten noch Generationen, bis sich solche Denkmuster oder neue Erkenntnisse herauskristallisieren konnten, weiß heutzutage fast jeder binnen weniger Wochen (teilweise sogar nur binnen Tagen oder Stunden), wenn wir als Gesellschaft eine neue Art und Weise herausgefunden haben, effizient Avocados zu schälen.

@plantbasednews

Perfect #avocado slices every time! ? #KitchenHacks #avocadohack #avocadotoast

♬ Lazy Sunday – Official Sound Studio

Auch mentale Gesundheit und Selbstverwirklichung erleben einen Boom. Als wäre unsere Seele eine Avocado, für die es nur den richtigen Lifehack braucht. Vor einigen Jahren wusste beispielsweise noch kaum jemand, was „Affirmations“ sind. Ich finde es gut, dass wir mal einen Trend haben, wo wir uns selber gute Dinge sagen. Wann gab es das denn jemals?

via Giphy

Es gibt kaum ein Thema, was davon ausgenommen ist. Wenn du dich nur ein bisschen für etwas interessierst, serviert der Algorithmus dir den neuesten Tea, während der noch zu heiß zum Trinken ist.

via Giphy

Ist die Welt ein Film, wo jede*r Main Character ist, oder sind wir alle Statist*innen?

Wenn man sich so mehrere Stunden pro Tag Memes, Reels und TikToks anschaut, kommen verschiedene Gefühle. Man ist nicht allein, es gibt für jedes Interesse massenhaft Content. Es gibt viele da draußen, die einen verstehen. Es ist unterhaltsam und dennoch verspürt man einen dumpfen Schmerz, wenn man feststellt, dass alle anderen ein genauso komplexes Leben haben.

@suppe5000

♬ Originalton – Der-Lokführer (Bahn1.AT)

 

Aber ist es nicht auch irgendwie schön? Vielleicht geht es gar nicht darum, am besondersten zu sein. Im Internet gilt heute: Poste einfach, worauf du Lust hast. Wie im Leben, wo man in einem Gespräch sagt, was man denkt. Da macht man sich auch nicht Sorgen, ob irgendwo auf dem Planeten mal jemand dasselbe schon gesagt hat.

Gerade weil diese Apps uns mit jeder Minute interessanteren Content zeigen, ist es herausfordernd, sich nicht darin zu verlieren. Man muss sich regelmäßig dazu zwingen, in die reale, also die analoge Welt, zurückzukehren. Das kann helfen, sich ein bisschen daran zu erinnern, dass soziale Medien nur eine große, schnellere Version von normaler Kommunikation sind.

Man kann also hier und da eine Pause machen, sich wieder orientieren und – wenn man sich dabei ein paar Gedanken gemacht hat, die überwältigenden Entwicklungen im Internet ein bisschen besser verstehen.

Über Sarah

Sarah’s Leidenschaft sind Wortspiele, Memes und surfen. Am liebsten widmet sie sich beim Schreiben den kleinen Dingen, die man leicht drehen und wenden kann, bis es interessant wird. Schreibblockaden löst Sarah durch gezieltes Unsinn machen und Bewegung, meistens an der frischen Luft mit ihrem ebenso quirligen Hund.