Sprachgewitter: Wie ich dem Weltschmerz begegne

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Morgens öffne ich die Augen, ich komme aus einer unruhigen Nacht. Auf meiner Brust liegt etwas, das sich schwer beschreiben lässt. Gleichzeitig eng und unüberwindbar scheinend groß, grenzenlos und dennoch konzentriert auf diese eine Stelle, an der ich versuche, Luft in meine Lungenflügel zu pumpen. In der deutschen Sprache gibt es ein eigenes Wort dafür: Weltschmerz sagt man dazu. Und wenn der Weltschmerz sich Einlass gewährt, ist es gar nicht so einfach, ihn wieder heraus zu bitten.

Er hält sich hartnäckig, wie ein ungebetener Gast. Er ist nämlich, wenn man so will, kein Schmerz per se, sondern ein Bewusstsein. Weltschmerz nennen wir etwas, das sich nicht konkret beschreiben lässt, in der Luft liegt, aber wir erst zu begreifen lernen – etwas, das uns bewusst wird, wenn wir unsere Umgebung und die Welt verstehen lernen.

Woher die Sorge kommt und wer sie trägt

Klimakrise, Fluchtbewegungen, Kriege, Diskriminierung, Sexismus, Rassismus und … eine zwei Jahre andauernde Pandemie. Es ist beinahe unmöglich, sich diesem Bewusstsein zu entziehen, vor allem seit wir es tagtäglich und unmittelbar über Soziale Medien mitverfolgen können. Diese Sorge um die Welt und wie sie sich entwickelt, ist ein Phänomen, das erst in den vergangenen 25 Jahren aufkam. 

© BAM! | Marietta Dang

Der Millenial Survey Deloitte hat 2021 rund 23.000 Menschen befragt, die zwischen 1983 und 1994 geboren sind, mit dem Ergebnis, dass vor allem die Klimakrise eine hohe, kollektive psychische Belastung darstellt. An dieser Studie lässt sich ein Zeitpunkt festlegen, der zeigt, dass Menschen, die ab Mitte der 80er Jahre geboren wurden, in einer Welt aufwachsen, die neben sogenannter unbegrenzter Möglichkeiten auch viel Grund zur Sorge bietet.

Auch die weiteren Herausforderungen, mit denen wir aktuell zu kämpfen haben, erhöhen den Stress auf junge Menschen, was bedeutet, dass wir stetig angespannt und über ein gesteigertes Maß hinaus aufmerksam sind. Hypersensibel für Gefahren oder Bedrohungen unseres Lebens. Weltschmerz ist demnach nicht nur eine melancholische Stimmung, sondern eine anhaltende Alarmbereitschaft des Körpers, auf Katastrophen vorbereitet zu sein. Er ist nicht sichtbar, doch ganz klar spürbar.

Wo fängt man an?

Damit die Zukunft nicht ständig in dunkle Farben gehüllt wird und wir zwischendurch Kräfte sammeln können, um weiterhin gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, gibt es hilfreiche Handlungsoptionen, wie man den unerwünschten Gast wieder aus dem Zuhause bittet.

© BAM! | Marietta Dang

1. Akzeptanz 

Zuallererst, und das ist der schwerste Schritt, müssen wir beginnen, eine Akzeptanz für das Weltgeschehen zu entwickeln. Etwas zu akzeptieren, bedeutet dabei nicht, es zu tolerieren, sondern zu verstehen, dass es aktuell so ist.

Wenn ich überwältigt bin von all den Missständen und dem Schmerz, der auf den Schultern von (strukturell) benachteiligten Menschen lastet, versuche ich mir simple Dinge laut vorzusagen. “Eins nach dem anderen”, oder ich schreibe ungefiltert auf ein Blatt Papier, womit ich gerade konfrontiert bin, was mich beschäftigt.

2. Aktion

Um aus der Ohnmacht zu geraten, ist es wichtig, Räume zu finden, in denen Mensch tätig werden kann. Das mag durch aktive Mitarbeit in ehrenamtlichen Organisationen wie z. B. aktuell Train Of Hope oder Fridays For Future sein. Das kann auch bedeuten, dass man digital und/oder auf Demonstrationen Stimme zeigt, für Initiativen wie das Black Voices Volksbegehren. Jede Handlung und jede noch so minimale Initiative zeigt ihre Wirkung. So funktioniert das Prinzip der Solidarität.

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3. Quellen und Informationen geprüft und gut dosiert konsumieren

Im Überfluss an Informationen ist es heutzutage wichtiger denn je, Quellen zu prüfen und Inhalte zu hinterfragen. Wer hat das geschrieben? Lese ich unabhängige Medien oder Meinungen von Privatpersonen? Sind die Berichte durch Quellenangaben belegt? Wie finde ich heraus, was eine seriöse Quelle ist?

4. Pausen, Ruhe und Kräfte sammeln

Und zu guter Letzt gilt etwas, das in diesen Zeiten unabdinglich ist: Pausen. Pausen von Nachrichtentickern und Push-Benachrichtigungen. Pausen von viralen Videos und Messenger Services. Denn so wichtig es ist, informiert zu sein, ist es ebenso essenziell, auf die eigene mentale Gesundheit zu achten und die persönlichen Kapazitäten nicht zu überschreiten.

 

Einer wiederkehrenden Sorge um die Welt und ihrer Zukunft entgegen zu treten, erfordert Menschen, die nicht müde und erschlagen von ihrem täglichen Geschehen sind. Der Weltschmerz wirkt allumfassend, groß und grenzenlos. Genau deswegen müssen unsere Handlungen abgesteckt, portioniert und klein sein. Das ist nachhaltig und wird Wirkung zeigen können. Gegen das Große kleine Schritte setzen.

Wie es weitergeht

Heute Morgen wache ich auf und auf meiner Brust macht sich augenblicklich wieder diese Enge breit. Ich öffne die Vorhänge und die ersten Frühlingsstrahlen blitzen durch den Raum. Ich spüre die Wärme, die sich über meine Wangen legt und merke, wie die Last dadurch ein wenig zu schmelzen beginnt. Ich nehme nicht gleich mein Smartphone in die Hand, sondern lasse meinen Blick für mehrere Minuten im blauen Himmel hängen. Sehe mich um und überlege, was heute auf mich zukommt. 

 

© BAM! | Marietta Dang

Im Laufe des Tages werde ich meine Aufgaben, meine beruflichen Verpflichtungen und alltäglichen Besorgungen balancieren und dazwischen Zeit einräumen. Ich werde eine Freundin anrufen und fragen, wie es ihr geht. Ich werde die Nachrichten aktualisieren und mich umsehen, wo meine Hilfe, meine Stimme oder meine Plattform gebraucht wird. Was kann ich heute geben? Die Wärme, die ich am Morgen erfahren habe. Das Wissen, dass es weitergeht. Die Zuversicht, dass ein Miteinander immer größer ist als die Einsamkeit. Und dass ich mich erkenne in einer Gemeinschaft an Menschen, die auch etwas verändern möchten. 

Über Jaqueline

Als Sozialarbeiterin und Feministin eher an Problemlösungen interessiert, wirft sie in ihren Texten und Kolumnen meist Fragen zu Identitätsfindung, Körperbewusstsein, und einer Bandbreite an tiefen Emotionen auf. Neben Sprachgewitter teilt sie die alltägliche Ästhetik ihrer Wahrnehmung auf ihrem Instagramaccount minusgold.